Passt die Leistung zur Taktik? Neuer Ansatz zu ganzheitlichen Performance-Metriken

Die Leistung auf dem Platz wird heute schon sehr detailliert getrackt. Trotzdem erfahren Spieler auch eine Wertschätzung von Außen, wenn sie besonders viele Kilometer gelaufen sind oder eine hohe Zahl an Sprints aufzuweisen haben. Dabei steht diese körperliche Leistung während des Spiels oder nach demselben zwar fest, wird jedoch kaum mit den entsprechenden taktischen Vorgaben oder Spielentwicklungen in Korrelation gesetzt. Eine wissenschaftliche Arbeit stellt den „Integrated Approach“ dar, bei dem konkrete physische Metriken mit den taktischen Aktivitäten auf einzelnen Positionen und letztlich im Team kontextualisiert werden. Mit zusätzlichen Machine Learning-Prozessen könnte diese Art der Analyse einem Trainerstab einen ganz neuen, datengestützten Blick auf die Leistung im Rahmen einer Spielphilosophie ermöglichen.

Die gemessenen Leistungen sollten im Spielkontext stehen

Die Korrelation von Zeiten und Bewegungen stellt für die Ermittlung von Leistungsparametern im Sport einen Kernpunkt dar. Ganz besonders im Mannschaftssport und damit auch im Fußball werden bestimmte Parameter für die Leistung jedoch häufig noch isoliert betrachtet. Wenn Jacob Bruun Larsen, Timo Werner oder Philipp Max im Spiel eine Reihe von Sprints aufweisen, stimmen die Werte auf den ersten Blick mit ihrer taktischen Ausrichtung und Spielaufgabe überein. Wenn aber ein Salif Sané oder gar der Torwart viele Sprints leisten muss, dann kann das als isolierter Messwert positiv wirken, in Kombination mit der eigentlichen taktischen Vorgabe allerdings auf Probleme bei der geplanten Spielgestaltung hinweisen. Nun ist ein Fußballspiel zwar immer mindestens zum Teil von Spontaneität und Unvorhergesehenem geprägt – andernfalls würden wir wohl weniger Tore und Überraschungen erleben. Aber trotzdem sind taktische Vorgaben, die Woche für Woche einstudiert werden, eine wichtige Basis; auch für die Handschrift eines Trainers. Der José Mourinho vergangener Jahre ist ein Musterbeispiel, Guardiola ist es heute wie ein Klopp, Sarri, ein Stück weit auch ein Nagelsmann.

Die meisten Sprints in der Bundesliga (Stand Oktober 2018), © Bundesliga

Aus diesem Grund heraus ist das In-Relation-Setzen von physischen Leistungswerten mit den taktischen Rahmenbedingungen ein Weg, um eine subjektiv wahrnehmbare Leistung objektiv und datengestützt einzuordnen. Und auf diese Weise könnten Anforderungen an Spieler präzisiert oder deren tatsächliche körperlichen Leistungen auf dem Platz für kommende Aufgaben modifiziert und optimiert werden.

Die Wissenschaftler Paul S. Bradley und Jack D. Ade haben für Human Kinetics einen theoretischen Ansatz entwickelt, der weniger eindimensionale Distanzen usw. misst, sondern vielmehr taktische Rollen und Trainerentscheidungen – individuelle wie teambezogene – als Kontext für die physischen Leistungen ansetzt. Davon berichten sie im International Journal of Sports Physiology and Performance. Obwohl die Laufdistanzen in vielen Ligen meist steigen, wurde bisher wenig auf die Einbettung der einzelnen Werte geachtet, die uns Zuschauern ja ebenso gern als Hintergrunddaten präsentiert werden. Bradley und Ade sind jedoch überzeugt, dass ein integrierter Ansatz, der einen konkret definierten Leistungskontext aufgreift, eine differenziertere Betrachtung von physischen Leistungen ermöglicht; und damit ganz neue Trainingsoptionen eröffnet.

„However, at present, a new ‘integrated‘ approach that contextualizes match physical performance would surely progress the field’s understanding of the global demands and assimilate the physical and tactical data more effectively. Intuitively, this may aid the coaches’ understanding of the physical performance in relation to the tactical roles and instructions given to the players and enable practitioners to effectively translate match metrics into training and testing.“

Um das althergebrachte Modell darzustellen, greift Bradley auf eine eigene Veröffentlichgung (Bradley et al. 2009: High-intensity running in English FA Premier League soccer matches) zurück.

Der traditionelle Ansatz zur Messung von Laufleistung im Fußball, © (Bradley et al.), Human Kinetics

Anders als dabei gibt es natürlich inzwischen Messungen, welche den Ballbesitz (oder den Mangel daran) als weiteren Kontext miteinbeziehen. Doch darüber geht der vorgestellte „Integrated Approach“ der Wissenschaftler hinaus.

Der „Integrated Approach“ 

Mit diesem Ansatz möchten Bradley und Ade den Facettenreichtum des Fußballspiels in körperlicher und taktischer Hinsicht abbilden. Wenn etwa die Außenverteidiger immer wieder Flankenläufe starten und die eigentlichen Außen überlaufen – wie Augsburgs Philipp Max –, ist das ebenso ein taktisches Mittel wie ein hohes und frühes Pressing, das etwa für Jürgen Klopps FC Liverpool charakteristisch ist.

Liverpools Pressing gegen Manchester City in der letzten Saison, Quelle: Anfieldindex.com

Bradley und Ade konzentrieren sich auf die Überschneidungen von taktischen und physischen Aktivitäten, weil die letzteren zu einem Gutteil im Idealfall aus ersteren resultieren sollen. Dabei geben sie an, dass verschiedene Spieler auf unterschiedlichen Positionen auch verschiedene Aktivitätsfelder aufweisen. Zu den Variablen ihres Ansatzes gehören Größen wie der Sprint in den freien Raum, das kollektive Verschieben nach vorn im Angriff oder der sogenannte Recovery Run, wenn ein Spieler seine Position verloren hat und zurücksprinten muss. In einer aus Ade et al. entlehnten Grafik (Ade et al. 2016: High-intensity efforts in elite soccer matches and associated movement patterns, technical skills and tactical actions. Information for position-specific training drills) wird deutlich, dass der Innenverteidiger natürlich ganz andere Läufe macht als der Außenstürmer.

Positionsspezifische Angaben zu taktisch-körperlichen Leistungen, © (Ade et al.), Human Kinetics

Nun könnten mit ihrem Modell, anders als beim traditionellen Ansatz, dank dieser Differenzierungen und der angesetzten Parameter wie Flankenläufe von Außenverteidigern oder Sprints in den Strafraum explizite Erkenntnisse zu den unterschiedlichen physischen Leistungen der Spieler im Kontext ihrer taktischen Vorgaben ermittelt werden. Das demonstrieren Bradley und Ade mit einer Grafik, die den Unterschied zum eher eindimensionalen Ansatz der Distanzmessung etc. (siehe Bild oben) zeigt.

Der „Integrated Approach“ kann die physischen Leistugen positions- und taktikbezogen kontextualisieren, © (Ade et al.), Human Kinetics

So lässt sich beispielsweise ermitteln, dass die Positionen mit klar definierten Defensivaufgaben, Innen- und Außenverteidiger sowie zentrale (eher defensive) Mittelfeldspieler, 26-31 Prozent ihrer Läufe mit hoher Intensität absolvieren, um Räume defensivorientiert abzudecken und zuzumachen, während etwa Flügelspieler im Mittelfeld nur bei 13 Prozent der Läufe diese Intensität erreichen. Je nach System müssen Trainer aber auch von ihren Flügelspielern mehr Defensivarbeit einfordern; zum Beispiel, wenn im 3-5-2 gespielt wird. Dann können sie aufgrund einer solchen Datengrundlage im Training nicht nur auf die Relevanz der defensiven Laufwege zur Raumabdeckung hinweisen, sondern diese direkt trainieren. Die obige Grafik zeigt ebenfalls, dass naturgemäß die Außenspieler mit den Läufen in den „Channel“, also in den freien Raum auf der Außenbahn betraut sind. Fällt nun in der Messung auf, dass zentrale Verteidiger oder Mittelfeldspieler mit großer Häufigkeit diese Läufe tätigen, und dass womöglich mit hoher Intensität, mag das auf ein Ungleichgewicht bei der taktischen Spielausrichtung hinweisen.

Der Ansatz muss noch weiter reifen; Machine Learning kann helfen

Was sich für die Analysten im Trainerteam zunächst gut anhört, hat noch so einige Hürden zu überwinden. Immerhin muss der „Integrated Approach“ noch feinjustiert werden. So müssen die kontextuellen Angaben langfristig und nach womöglich auch variablen Parametern derart systematisch ermittelt werden können, dass die Erkenntnisse eine definierte Vergleichsbasis schaffen, auf die zurückgegriffen werden kann.

Da Bradley und Ade ihr Modell zunächst manuell erstellt hatten, wäre eine Analyse schon dann schwierig, wenn mehrere Teams mit ihren sämtlichen Spielern in mehreren Spielen untersucht werden sollten.

„As the levels of complexity increase, the ability to clearly define actions and scenarios becomes more difficult.“

Allerdings könnte mit einem auf Machine Learning basierenden System diese differenziertere, dabei jedoch nicht zu komplexe Messung zu nachhaltigen Leistungserkenntnissen führen. Sofern auch ein Abwägen stattfindet, welche Werte als relevant eingestuft werden. Bei einem solchen System oder einer KI, die die taktikbezogenen Variablen entsprechend filtert, könnten auf das Trainerteam zugeschnittene Messzyklen initiiert werden. Und diese dürften deren taktische Trainingsansätze definitiv unterstützen. Ein Problem bei der Definition der Variablen ist natürlich die Überschneidung von Aktivitäten, weil ein Sprint in den freien Raum auf der Außenbahn bei Ballverlust schnell zum vielleicht noch rettenden Recovery Run werden kann. Hierfür müssten also zeitliche Parameter angesetzt und taktikrelevante Priorisierungen übereinstimmend eingestellt werden. Letztlich könnten die so ermittelten Werte auch nach den verschiedenen Phasen der Spiele unterteilt werden.

„These could be classified as in-possession construction, in-possession counterattack, out-of-possession low/medium block, and out-of-possession counter-defending. This is particularly important, as success in transition moments has been shown to be critical to match outcome.“

Auf diese Weise könnte der Einfluss der Spieler auf das taktische und das spontan initiierte Spielgeschehen datengestützt eingeschätzt und über daran orientiertes Training optimiert werden. Da die Daten der Wissenschaftler sich bisher nur auf ein Team bezogen und das ganze System noch keine umfassende Marktreife hat, bleibt der „Integrated Approach“ für den Moment noch ein theoretisches Modell. Dieses hat jedoch großes Potential. Denn bei der zusehends steigenden Professionalisierung jeglicher Trainingsabläufe sowie der parallelen Digitalisierung der Planung, Messung und Unterstützung derselben ist eine individualisiertere und gleichsam kollektiv taktikbezogene Leistungsermittlung eine sicher interessante Aussicht für die Trainerteams, letztlich aber ebenso die Spieler. Unterstützung erhielten Bradley und Ade bei ihrer Ausarbeitung übrigens von Ian Graham, Director of Research beim FC Liverpool.

„The traditional approach has been used for 4 decades to quantify match physical performances. However, the integrated approach contextualizes match demands by assimilating physical and tactical data effectively.“

Wir dürfen also gespannt sein, ob die Trainer künftig auf diesen Ansatz setzen und das Training daran orientiert optimieren können. Wahrscheinlich wird bereits daran gearbeitet. Vielleicht wird den Fans vor dem Bildschirm dann irgendwann offenbart, dass ein Joshua Kimmich wegen einer Taktikumstellung in der Halbzeit in der Folge deutlich weniger Flankenläufe, dafür aber viel mehr Sprints in den Strafraum oder Laufwege zur Raumabdeckung absolviert hat. Besonders die Potentiale von Machine Learning und KI dürften dahingehend einige Optimierungen ermöglichen. Das Zusammenspiel von Taktik und der körperlichen Leistung und dessen Verbesserung mag dann für einen positiven Spielausgang sorgen; aber ein genialer Moment von einem Spieler wie Eden Hazard wird wohl immer, Taktik und Messung hin oder her, genauso eine Entscheidung herbeiführen können. Und das ist auch gut so.

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