Dieser Artikel ist zuerst in Clutch erschienen. Das Magazin der Agentur Frau Wenk beschäftigt sich seiner aktuellen Ausgabe monothematisch mit dem Thema künstliche Intelligenz. Hier gelangt ihr zur Ausgabe des Magazins.
Der Begriff „Roboterjournalismus“ meint eigentlich nur, dass Computerprogramme automatisch journalistische Texte erstellen, und zwar auf Basis strukturierter Daten und Textbausteine. Eine solche Lösung ähnelt dem menschlichen Denken nicht, anders als die sogenannte „starke KI“. Diese bleibt jedoch vorläufig eine Vision. Maschinelles Lernen ist hingegen Realität, inklusive Deep Learning, das künstliche neuronale Netze nutzt und eigene Regeln aus Mustern selbst erschließt. Genutzt wird Deep Learning für medizinische Diagnosen, Analysen des Aktienmarktes und eben bei der Sprach- und Texterkennung. Doch was können diese Algorithmen für Journalisten leisten und wie arbeiten sie?
Die KI im Sportjournalismus
Die Algorithmen greifen auf Datenbanken mit Sport-, Finanz-, Wetter- oder Verkehrsdaten zu, verknüpfen sie, auch mit Bildern, und nutzen Textbausteine, die Journalisten zu bestimmten Themen angelegt haben. Bald sollen sogar Meinungen und Kommentare aus Social Media einfließen. Je besser die Datenlage, desto detailreicher der Text. Für einen Fußballbericht greift die Software etwa auf folgende Informationen zu: Torschützen, Torvorlagen, gelbe und rote Karten, Mannschaftsaufstellungen und Auswechslungen.
Doch auch Finanz- und Wetterberichte, Hotel- oder Produktbeschreibungen sind beliebte Anwendungsfelder für den automatisierten Journalismus. Die Nachrichtenagentur AP veröffentlicht jedes Quartal rund 3.000 Finanzberichte zu börsennotierten Unternehmen. Die Stuttgarter Nachrichten liefern jeden Tag 80 Feinstaubradare, erstellt durch die Textautomatisierungssoftware Ax Semantics. Als Autor wird „Ax“ genannt. Die lernende Software von Ax Semantics basiert auf Machine Learning und erstellt aus klassifizierbaren Inhalten Massentexte in 110 Sprachen. Zum Einsatz kommt sie bei Online-Händlern, Verlagen und Finanzdienstleistern. Von Journalisten trainiert, kombiniert die Software Daten mit vorgegebenen Inhalten und Tonalitäten.
Ohne den Menschen geht in der künstlichen Intelligenz also (noch) nichts: Er erstellt das Konzept und die Textbausteine und programmiert die Anwendung. Die Software strukturiert dann die Daten und schreibt die Texte. Das allerdings schon recht überzeugend, wie ein Experiment der Ludwig-Maximilians-Universität München und des Fraunhofer Instituts für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergonomie (FKIE) aus dem Jahr 2016 zeigt: Die befragten Personen empfanden Computertexte als glaubwürdiger auf den Gebieten Sport und Finanzen – die menschlichen Texte jedoch als flüssiger und angenehmer zu lesen. Alexander Siebert, Geschäftsführer der Retresco GmbH in Berlin, einem Anbieter von KI-getriebenen Technologien zur Content Automation, betont, die Software ergänze den Menschen:
Maschinen haben andere Stärken als Menschen, Kreativität zählt nicht dazu. Künstliche Intelligenz funktioniert als eine Erweiterung der menschlichen Intelligenz. Eine optimierte Mensch-Maschine-Interaktion gibt dem Menschen hierbei mehr Raum für das Ausleben seiner Stärken – Kreativität, Originalität, Empathie, Menschlichkeit. Stark repetitive Arbeiten werden hingegen früher oder später durch Maschinen übernommen.
Und dazu zählen laut Siebert Börsen- oder Sportberichte.
Die Spielberichte von Retresco lesen sich bereits sehr flüssig. Auf seiner Seite hat der Dienstleister einen Aggregator für die Zusammenfassungen von Bundesligaspielen freigeschaltet. Dort lassen sich einige Beispiele für Sportberichte aus der Feder von Kollege Roboter nachlesen.
Wir haben den renommierten Sport-Reporter Pit Gottschalk geben, sich für uns einmal die automatisierten Zusammenfassungen anzusehen. Sein Fazit: „Der Retresco-Text erfüllt alle Erwartungen an einen Artikel, den man 1:0-Berichterstattung nennt. Wer, Wann, Was, Wo und Wie – man bekommt die knappen Antworten gebündelt und treffend zu lesen, ohne Schnickschnack und vor allem: ohne Warum. Der vorliegende Artikel stillt den schnellen Informationshunger. Das ist gleichzeitig viel und wenig. Viel, weil diese Form der Sportberichterstattung früher im Akkord von Menschen erledigt werden musste, und wenig, weil Roboterjournalismus genau das nicht ist: Journalismus. Jahrzehntelang hat der Lokalsport davon gelebt, dass die 1:0-Berichterstattung am Montagmorgen exakt in dieser Art in der Zeitung erschien. Es ging allein um Informationsweitergabe. Ungeprüft, schnell, zuverlässig, korrekt. Das ist bei diesem Retresco-Text nicht anders. Wenn man den kurzen Artikel nicht Journalismus nennt, sondern Datenverarbeitung, fällt das Urteil über die Qualität der Formulierungen milder aus.“ Ein kurzer Auszug aus dem Text zu Hertha gegen Leverkusen verdeutlicht das:
Hertha BSC läuft am Ende der Saison auf Platz elf im unteren Mittelfeld ein. Die Saison lief für den Gastgeber mittelmäßig, was sich aus der Bilanz von elf Erfolgen, zehn Unentschieden und 13 Niederlagen ablesen lässt. Mit acht Punkten aus den letzten fünf Spielen machte Hertha deutlich, dass man in der kommenden Spielzeit weiter nach oben will.
Gottschalk sagt aber auch, dass die Sorge, dass Maschinen die Arbeit von Journalisten übernehmen könnten unbegründet sei. „Die 1:0-Berichterstattung ist längst keine Kernaufgabe im Sportjournalismus mehr. Einordnung, Vertiefung, Kommentierung, Erörterung, Interviews: Nichts davon können Maschinen erledigen. Das menschliche Urteil über Vorgänge und Resultate hängt eben nicht von künstlicher Intelligenz ab, sondern von der Qualität des einzelnen Journalisten. Die ist nicht ersetzbar.“
Der Deutsche Journalisten-Verband e.V. (DJV) sieht künstlichen Journalismus naturgemäß kritisch. Pressesprecher Hendrik Zörner ist überzeugt:
Ob Algorithmen irgendwann einmal wie leibhaftige Menschen formulieren können, kann ich nicht voraussagen. Jetzt sind sie noch weit davon entfernt. Recherchen, Interviews und Gespräche, also die Voraussetzungen für Qualitätsjournalismus, können nur von Journalisten geführt werden.
25.000 verschiedene Beschreibungen von Autoreifen für einen Online-Shop, eine Leistung von Ax Semantics, hätten mit Journalismus wenig zu tun. Blitzschnelle Recherchen von Fakten im Internet seien das eine, die Bewertung und Einordnung der Resultate das andere. Da Algorithmen auch nicht zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden könnten, seien automatisierte Inhalte laut Pressekodex zu kennzeichnen. Mediennutzer müssten wissen, wer Urheber einer Berichterstattung ist: ein Mensch oder eine Maschine. Die redaktionelle Verantwortung sei nicht auf Algorithmen übertragbar. Ob sich das irgendwann ändert?